HER(R)BERGSKIRCHEN
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DOLORES DIRSCHAUER
DIE FLEXIBLE
Bei Dolores Dirschauer klingelt das Telefon – eigentlich immer. Gerade ist einer ihrer beiden Söhne am Apparat, weil er das Auto braucht, um einen Nachbarn zum Zahnarzt zu fahren. Man kennt sich, man hilft sich im 450-Seelen-Ortsteil der Stadt Sonneberg. Und die Umstände lassen eine*n pragmatisch werden: „Das kommt mir gelegen“, ruft die Betreiberin des Gasthauses am Rennsteig halb in den einen, halb in den anderen Hörer. „Ich habe Bratwürste im Nachbarort bestellt, die kann er gleich mit abholen. Dann spare ich mir die halbe Stunde für andere Dinge.“ Im Leben der 50-Jährigen, die die Wirtschaft mit angeschlossener Pension in fünfter Generation betreibt, dreht sich alles ums Zeitmanagement. „Ich kann ja den Gästen nicht sagen, wann sie zu kommen und zu gehen haben“, erzählt Dirschauer von ihrem Alltag in Spechtsbrunn, einem der ältesten Orte im Rennsteiggebiet – und einem sehr abgeschnittenen. Das war nicht immer so, wie Dirschhauer als hier Geborene und Gebliebene aus eigener Erfahrung weiß: Zu DDR-Zeiten habe es noch alle Geschäfte vor Ort gegeben, erinnert sie sich, seitdem sei alles nach und nach weggebrochen. „Mehrmals die Woche kommt ein Bäckerauto, aber ich muss natürlich ganz anders planen. Ich bin alleine und organisiere deswegen alles im Vorfeld. Man braucht viel Zeit und ohne Auto geht nix.“
Später habe ich gedacht: Ich habe nicht mal ein Foto gemacht von den ganzen Grenzzäunen.
Dass sie das Haus an der ehemaligen Heer- und Handelsstraße, in dem sich früher neben der Gaststube auch eine Fleischerei befand, einmal übernehmen würde, war alles andere als geplant. „Nein, ich bin eine echte Quereinsteigerin“, sagt Dirschauer lachend und erzählt von ihrem vormaligen Berufsleben als Filialleiterin einer Volksbank, von der Währungsunion, den Schwangerschaften, der Wende, die auch für sie persönlich einen Wendepunkt bedeutete. „Später habe ich gedacht: Ich habe nicht mal ein Foto gemacht von den ganzen Grenzzäunen“, berichtet sie. Damals war sie 20 Jahre alt. „Erst durften wir nicht fotografieren, und dann ging alles viel zu schnell. Plötzlich kamen Unmengen an Menschen aus den alten Bundesländern, man kam gar nicht zum Luft holen.“ Dazu müsse man wissen, fährt Dirschauer fort, dass sie eigentlich gar nicht könne mit Menschenmengen. „Ich brauche immer Leute, die auf mich zukommen, zumindest dachte ich das, bevor ich die Gaststätte übernommen habe. Ich war immer lieber in der Küche oder im Büro und plötzlich war ich Gastgeberin. Natürlich hatte ich da Vorbehalte.“
Aber manchmal lernt man mehr über sich selbst, wenn man einen Pfad einschlägt, der nicht so vorhergesehen war.
Rückblickend habe sie es nicht bereut, im Gegenteil: Der Perspektivwechsel habe sie in vielerlei Hinsicht aufgeschlossen und über ihre eigene Unsicherheit nachdenken lassen. „Natürlich habe ich die Entscheidung zunächst als Abstieg empfunden: Wer nichts wird, wird Wirt, kennen Sie das?“, fragt sie und muss angesichts ihres 16-Stunden-Tages heute darüber schmunzeln. „Die Menschen kommen ja auch verunsichert in einen Raum, den sie nicht kennen. Als ich das erkannte habe, dachte ich: Du musst es ihnen hier so behaglich und gemütlich wie möglich machen“, meint Dirschauer mittlerweile selbstsicher über ihren Rollenwechsel. „Ich bin ja die Hausherrin, wieso sollte ich schüchtern sein? Und das Tollste ist: Es kommt immer sofort etwas zurück, ob im Gespräch oder im Gästebuch.“ Und dann gibt es ja auch die Herbst- und Wintermonate, in denen kaum Wandernde den Ort passieren. „In dieser Zeit ist eigentlich noch mehr Selbstdisziplin gefragt“, erklärt Dirschauer, und dann erklärt sie auch, warum: „Weil die Tagesstruktur nicht vorgegeben ist. Dann singe ich im Pop-Chor, gehe mal ins Theater oder zu Konzerten, bin viel in der Natur und verreise ab und zu. Und vor allem kommt im Winter das Dorf für Familienfeiern zu mir.“ Dennoch müsse sie über die Saisonmonate vorarbeiten, damit das Geld am Ende nicht knapp werde. „Ich weiß, in der heutigen Zeit ist das nicht der Weg, um reich zu werden. Aber manchmal lernt man mehr über sich selbst, wenn man einen Pfad einschlägt, der nicht so vorhergesehen war.“