DER RENNSTEIG IM THÜRINGER WALD

GRENZGANG. EINE KULTURGESCHICHTE

Über 1.000 Grenzsteine standen einst entlang des Rennsteigs. Der Kammweg trennte jahrhundertelang politische Territorien und heute noch Flusssysteme. Wer ihn jetzt erwandert, erfährt hingegen Verbindendes.

Da, wo heute die Bundesrepublik liegt, lag einmal für viele Jahrhunderte ein schwer zu greifendes überstaatliches Gebilde, das heute beinahe modern anmutet – multilingual, multiethnisch: das Heilige Römische Reich. Es war dysfunktional und unübersichtlich, gerade darum aber auch nur durch viel Laisser-faire und kosmopolitische Liberalität zusammenzuhalten. Der innere Frieden des Verbundes aus Adels- und Stadtrepubliken, Herzogtümern, Grafschaften und Königreichen, Bistümern verschiedener Konfessionen und Freien Reichsstädten drohte stets, in Gewalt zu kippen. Gerade darum ist es aber auch ein Modell für komplexe diplomatische Balance. Nicht wenige Historiker*innen sehen hier ein Vorbild für die Europäische Union. In Thüringen haben sich die Spuren dieses oft als „Flickenteppich“ verschrienen mittelalterlichen Gebildes bis weit in die Moderne gehalten. Denn während mit dem Aufstieg Preußens im 18. Jahrhundert auch in den Deutsch sprechenden Ländern der Wunsch nach einem einheitlichen Nationalstaat aufkam, hielt sich im heutigen südlichen Thüringen bis zur nivellierenden, in der Rückschau reichlich unheilvollen Gründung des Deutschen Reichs 1871 ein komplexes System kleiner und kleinster Staaten.

Tatsächlich verläuft der Rennsteig mitten durch dieses territoriale Chaos, trennt Süd von Nord – und, wie in Neustadt am Rennsteig, eben auch das Dorf in einen schwarzburgischen und einen meiningischen Teil.

An die großen Königreiche Sachsen und Bayern schlossen damals an, von Ost nach West: das Herzogtum Sachsen-Altenburg, das Fürstentum Reuß älterer Linie, das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, das Fürstentum Reuß jüngerer Linie, das Herzogtum Sachsen-Meiningen, das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt, das Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha. Dazwischen klemmten sich noch kleine Inseln des preußischen Königreichs – Ländereien, die bis 1866 dem Kurfürstentum Hessen angehörten, das sich damals im Deutschen Krieg der Preuß*innen gegen Österreich auf die „falsche“ Seite schlug. Der Rennsteig, heißt es vermutlich falsch, leitet seinen Namen vom Rain her, einem Wort für Grenze; eine andere Theorie verweist auf einen sprachlichen Ursprung im Reiten, auf militärisch genutzte, von Wäldern geschützte Verbindungswege. Wie dem auch sei: Tatsächlich verläuft der Rennsteig mitten durch dieses territoriale Chaos, trennt Süd von Nord – und, wie in Neustadt am Rennsteig, eben auch das Dorf in einen schwarzburgischen und einen meiningischen Teil. Hauptsächlich trennte er aber seit dem Mittelalter den fränkischen Teil des heutigen Thüringens vom obersächsisch geprägten nördlichen Teil. Er ist also nicht nur eine Grenze und ein Begegnungsraum zwischen Territorien, sondern auch zwischen Dialekten und mentalen Bezugsräumen. Entlang des Rennsteigs verweisen noch immer zahlreiche Grenzsteine auf diese Geschichte – über 1.000 Steine lassen sich nachweisen, etwa 800 sind noch erhalten. Nicht wenige davon sind sogenannte Dreiherrensteine, die Dreiländerecke markieren.

Dem alten Rennsteigbrauch zufolge trägt man einen Stein aus der Werra vom einen Ende des Rennsteigs in Hörschel zum anderen in Blankenstein, um ihn dort in den Fluss Selbitz zu werfen.

Von denen gab es in der komplizierten thüringischen Geschichte – von den früh verschwundenen Grafschaften Orlamünde, Henneberg oder Gleichen etwa war bisher noch nicht die Rede – natürlich so einige. Der ‚Gesamtgrenzsteinkatalog‘ des Rennsteigvereins, einsehbar im Rennsteigmuseum in Neustadt am Rennsteig, umfasst 4.000 Seiten. Selbst das Wasser, scheint es, versteht den Weg über den Kamm des Thüringer Waldes als Grenze – die Flusssysteme von Weser, Rhein und Elbe grenzen an einem Wasserscheidepunkt in der Nähe der Quellen von Werra, Grümpen und Rambach aneinander. Weswegen man in der Rennsteiggemeinde Siegmundsburg neben den Dreiherrenstein von 1733 im Jahr 1906 gleich noch einen ‚Dreistromstein‘ setzen konnte. Weil der Rennsteig aber schon damals nicht mehr bloß ein alter Heerweg war, sondern ab 1832 auch in der Literatur des sich gerade als Idee entfaltenden Tourismus als Wanderweg beschrieben wurde, symbolisiert er natürlich ebenso: Verbindung. Wie er den fränkischen vom thüringischen Kulturraum trennt, verbindet er doch auch den hessischen Teil Thüringens im Westen mit dem fränkisch geprägten im Süden des Bundeslandes. Dem alten Rennsteigbrauch zufolge trägt man einen Stein aus der Werra vom einen Ende des Rennsteigs in Hörschel zum anderen in Blankenstein, um ihn dort in den Fluss Selbitz zu werfen – oder eben, wenn der Weg von Ost nach West führt, umgekehrt. In Blankenstein endet der Rennsteig auf einer Brücke – über einen Fluss, der eine Grenze war und ist. Denn auch wenn der Rennsteig weithin mit Thüringen verbunden ist, sein Verlauf führt auch durch ein anderes Bundesland, durch eines, das lange zu einem anderen politischen System gehörte: Bayern. So war der Grenzweg für Jahrzehnte selbst Opfer einer Grenzziehung. Während 1951 erstmals das ‚Rennsteiglied‘ gesungen wurde, bald ein Klassiker der DDR-Folklore, war ein Teil des Rennsteigs unpassierbar. Bis 1990 lag das östliche Ende, dem Sperrgebiet zur BRD geschuldet, in Neuhaus am Rennweg, das westliche, dem Sperrgebiet zur BRD geschuldet, am Vachaer Stein in Nachbarschaft der Wartburg. Dass dazwischen gegenwärtig sechsmal die bayerisch-thüringische Grenze überschritten wird, dürfte heutigen Wander*innen entlang des alten Grenzwegs vermutlich nicht einmal auffallen.

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