HER(R)BERGSKIRCHEN
KULTURLANDSCHAFT THÜRINGER WALD
INDUSTRIEGEBIET URWALD. EINE KULTURGESCHICHTE
Was sehen wir eigentlich, wenn wir in einen Wald blicken, was wollen wir erkennen? Grüne Ruhe, langsames Tempo, Entschleunigung, vielleicht eine Kraft, die aus der eigenen Kraftlosigkeit angesichts der Mächtigkeit, des Alters der Bäume, der Felsen und des ewig undurchdringlichen Dickichts besteht. Wir hören Gluckern im Untergrund und Zwitschern in der Höhe. Romantisch scheint uns das dann und wir atmen einmal tief durch. Dieses Verständnis vom Wald ist natürlich ein modernes – wenn es auch schon seit Jahrhunderten existiert. Obwohl: Natürlich sehen auch heute Förster*innen den Wald durch die Brille forstwirtschaftlicher Überlegungen. Die Waldarbeiterinnen sehen zu stapelndes Holz, die Jäger*innen das Fleisch. Caspar David Friedrich malte, als er den deutschen Nationalismus mit der Natur kurzschloss und damit die bildliche Blaupause dessen schuf, was wir heute gern ein wenig ironisch den „Deutschen Wald“ nennen, eigentlich Industriegebiete. Nicht nur der Holzindustrie. Man erkennt auf seinen Gemälden aus dem Erzgebirge die geschlossene Decke der Nadelgehölze, die kein natürlicher Samenfall pflanzte, sondern Waldarbeiter der frühen Industrialisierung – die Stämme mussten schnell nachwachsen, sie wurden für den Stollenbau des Bergbaus und die Feueröfen der Metallindustrie gebraucht. ‚Berggeschrey‘ nennt sich die hochmittelalterliche Version von Goldrausch in Sachsen, es geht um Silber, zurück bleiben Grube, Halde und Monobaumkultur.
Sie sahen: unendliche Holzvorkommen. Sie sahen: Sand. Und dass sich beides verbinden lässt, in der Produktion von Glas.
Auch der Thüringer Wald ist ein historisches Industriegebiet. Was sahen die Menschen in den dunklen Tälern? Neben Hainen, die nicht immer sicher zu bereisen waren, unwegsamen Gelände? Nun: Eisenerz. Während am Fuß der Berge schon früh Menschen siedelten und über die Kämme hinweg Handel trieben, wurden die hohen Lagen des Thüringer Walds erst vor etwa 600 Jahren zum Siedlungsgebiet. Zuvor kamen Menschen im Sommer, um in den Wäldern nach kostbaren Metallerzen zu graben. Mit Innovationen wie Schwarzpulver im späten Mittelalter wurde Bergbau stationär. Die Menschen begannen, sich auf den Bergkämmen anzusiedeln, um von dort zum Arbeiten in die Wälder zu ziehen. Während im Harz, dem ältesten deutschen Bergbaugebiet, schon die Ressourcen an der Oberfläche ausgebeutet, die Wälder abgeholzt waren, bot sich im Süden unberührtes Gebiet. Der Ort Schmiedefeld verrät in seinem Namen schon, was der Zweck seiner Gründung war. Um die Ecke, im „Urwald“ des Vessertals, seit Jahrzehnten unberührt von Forstwirtschaft, finden sich im Bett der Bäche noch immer Schlacke und auf den Wiesen Fundamentreste des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bergbaus.
Die ökologische Struktur des Waldes änderte sich in nur drei Jahrhunderten komplett. Andere Arten siedelten sich dadurch an, Flora wie Fauna. Der Thüringer Wald der frühen Neuzeit war eine Raubbauregion, eine Miniatur-Version dessen, was heute im Amazonas oder dem südlichen Kongo geschieht.
Sie sahen: unendliche Holzvorkommen. Sie sahen: Sand. Und dass sich beides verbinden lässt, in der Produktion von Glas. Vor allem siedlungsarme Regionen zogen im Mittelalter Glashütten an, mobile Bauten mit vor Ort gemauerten Schmelzöfen und Mühlen zum Zerkleinern von Gestein. Glashütten brauchten Quarzsand, und die Region ist reich an Sandstein. Der Flurname Sandberg bei Steinheid verrät, warum der Ort lange Zentrum der Glasmacherei ist. Das Holz wiederum brauchte man nicht nur für die Holzkohle, die den Ofen befeuerte, sondern auch für den Pottascheanteil des Glases. Pottasche senkte den Schmelzpunkt des Sandes, auf zwei Teile Asche im Ofen kam ein Teil Sand. Waldglas nannte sich das Erzeugnis. Wenn der Wald geschlagen war, zogen die Betriebe weiter, und schon im 14. Jahrhundert beschwerten sich weiter südlich die Dörfer des Spessart über das Verschwinden ihrer Lebensgrundlage durch die Rodungen. Da stand die große Gründungsphase der Glasindustrie im Thüringer Wald noch bevor. In der Glasstadt Lauscha begann sie 1595. Es ist eine Crux: Wohin man schaut, erscheint die Natur bloß einzig als das Stehengelassene in der Schnitzarbeit menschlicher Weltaneignung. Rodungen für Dorf, Acker und Weide, Umleitungen und Aufstauungen von Bächen für Papier-, Schneid-, Mahl-, Pulver-, Öl-, Lohmühle und den Transport ihrer Güter, Wegeführungen, Löcher im Boden und Hügelchen daneben. Holzabbau für Bergbau und Hausbau, Harzen und Heißen. Riesige Huftierherden fraßen die Waldwiesen leer. Wildpferde starben hier im 15. Jahrhundert aus, kaum, dass der Mensch sich ansiedelte. Biber wurden um 1600 ausgerottet, weil ihre Dämme die Mühlen störten. Wer entlang der Flüsschen Schleuse oder Vesser wanderte, hörte überall die metallischen Schläge der vom Wasser angetriebenen Hämmer.
Wo anderswo die Entstehung des modernen Tourismus funktionierende Gemeinschaften zerstörte, muss man beinahe konstatieren: Diese Region wurde dadurch gerettet.
Die ökologische Struktur des Waldes änderte sich in nur drei Jahrhunderten komplett. Andere Arten siedelten sich dadurch an, Flora wie Fauna. Der Thüringer Wald der frühen Neuzeit war eine Raubbauregion, eine Miniatur-Version dessen, was heute im Amazonas oder dem südlichen Kongo geschieht. Nur, dass die zahlreichen Waldgewerbe auf frühkapitalistischem Unternehmertum von einzelnen Akteur*innen basierten, nicht auf gigantischen Konzernen und postkolonialen Mechanismen, auf Leibeigenschaften und Zwang. Viel zu jung gestorben sind die Menschen, die die Pechöfen anfeuerten und stundenlang im Stollen lagen, trotzdem allzumal. Wo anderswo die Entstehung des modernen Tourismus funktionierende Gemeinschaften zerstörte, muss man beinahe konstatieren: Diese Region wurde dadurch gerettet. Mit der Erfindung der Dampfmaschine, die erst die heute so genannte Industrialisierung ermöglichte, ist die industrielle Waldwirtschaft binnen kurzer Zeit abgehängt. Mehr und mehr wird die Forstwirtschaft geordnet, schon im 19. Jahrhundert denkt man nachhaltig. Ab 1863 beginnt die Renaturierung im Gebiet des heutigen Biosphärenreservats. Der entstehende Wintersport hat sicher seine eigenen Einschläge, aber die sind im Vergleich zu den Verhältnissen des 16. Jahrhunderts beinahe sensibel vorgenommen. Der Wandertourismus rund um den Rennsteig beschreibt schon im frühen 20. Jahrhundert grüne Wälder. Damals vielleicht ein wenig ignorant. Heute gehört schon ein geübtes Auge dazu, die Überbleibsel der früheren Waldindustrien zu erkennen.